Montag, 15. September 2003

The spießig Experience: Tor-Tour auf dem S-Bahn-Ring

Erstellt von instantflorian um 20:28 Beitrags-Archiv 15. September 2003 (Seite 1 von 1)

Rumpelnd setzt sich der Zug in Bewegung. An „Bord“: ungefähr siebzig. Siebzig Siebzigjährige. Die Rede ist vom „Panorama-Zug“ der Berliner S-Bahn. Schon der Name macht deutlich, dass man sich beim Einsteigen in das gehobene Jägerzaun- und Schultheißtrinkermillieu begibt. Der Panorama-Zug hat eine Verglasung bis zum Dachholm hinauf, wie alte Pullmanbusse aus den Fünfzigern, die das Deutsche Reisewunder zu Adria kutschierten. Durch die Panoramavergasung, hoppsa, verschrieben, Panoramaverglasung meinte ich - kann man sich Brücken von unten und den Berliner Himmel anschauen, sofern es das gichtige Genickgelenk gestattet.

Man sitzt auf zinnoberroten Cordsitzen, die gerne Kinosessel geworden wären, es aber nicht durften, weil sie keine adäquate Aufbewahrungsmöglichkeit für den Kopf haben, der ja trotz allem oben an den Panoramikern dranhängt. Während der Fahrt werden Heiß- und Kaltgetränke zu Preisen gereicht, die genauso unverschämt sind wie in den Fernzügen der Deutschen Bahn AG.

Nun könnte man das ja alles noch verschmerzen. Immerhin fährt man eine gute Stunde in Berlin herum, ohne dass man Obdachlosenzeitungen angeboten bekommt, von russischen Musikern barbarische Blasmusik um die Ohren geschlagen bekommt oder man Kleinkriminellen mit von der Gerster-Behörde geförderten „Arbeit statt Strafe“-Beschäftigungstherapien seinen Fahrschein zeigen muss. Für den Nicht-Touristen (ein Exot, der sich nur selten in das erwähnte Verkehrsmittel begibt) wäre es sogar interessant, mal durch unzerkratze Scheiben stumpfsinnig auf den täglichen Weg zur Arbeit zu glotzen. Dieses seltene Vergnügen sollte doch sicherlich 15 Euro (die bekommt man nicht, wenn man mitfährt, die muss man bezahlen) wert sein.

Doch statt dem Rumpeln und Brummen des Elektromotors (der nur unwesentlich jünger ist als der durchschnittliche Mitfahrer) und dem Quietschen der Räder auf den Schienen zu lauschen, wird der geneigte Fahrgast von vorne bis hinten zugetextet. Ein Mitarbeiter der S-Bahn Berlin, gewandet in der schlecht sitzenden Polyester-Sonntagsuniform des Unternehmens, hat die Nacht vorher mit drei Büchern unterm Kopfkissen verbracht - „Berliner Architektur gestern und heute“, „Prominente loben Berlin - Zitatenschatz für den Hausgebrauch“ sowie „Herz mit Schnauze - so lacht der Berliner“ - quält seine Oberstimme und ein Mikrofon und übertönt nicht nur das Getöse des altersschwachen Gefährts, sondern auch die Fahrstuhlmusik, die seinen uninspirierten Monolog eigentlich unterlegen soll. Denn das frisch erworbene Wissen möchte nun weitergegeben werden. Unaufhörlich geht das Mundwerk, aus den Lautsprechern quellen in bescheidener Tonqualität Anekdote um Anekdote, Zitat um Zitat, so dass am Ende der Fahrt nicht nur die miserable Akkustik für das Klingeln in den Ohren verantwortlich ist. Immerhin, die Leistung, so viel Wortmüll über Nichtsehenswürdigkeiten (man sieht nüscht) bzw. Sehensnichtwürdigkeiten (man braucht auch nüscht zu sehen) zu verlieren, qualifiziert den Conferencier eindeutig auch zum Gewerkschaftssprecher, Politiker oder Atomkraftlobbyisten.

Nach einer Stunde und zwanzig Minuten wieder am Start (dem Ostbahnhof) angelangt, ist dies der schönste Moment der Tor-Tour: man darf aussteigen und mithilfe der normalen S-Bahn schnellstmöglich das Weite suchen. Fazit: Zur Nachahmung nicht empfohlen.

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