Ersatzhandlungen und Leerlaufprozesse
Montag, 8. Mai 2006

Berlins Biergartenschau

Das Stadtmagazin Tip listet "Berlins 140 beste Biergärten" auf - ist die Metropole wirklich schon so versoffen, dass jeder Vor- gleich ein Biergarten ist, oder hat die Redaktion auch auf den Gehweg gestellte Tische und Bänke mitgezählt, so dass jede Friedrichshainer (Touristen-)Szenekneipe zum Biergarten wird? Unklar, das. Aber, 140 Biergärten, das will doch sowieso keiner lesen. Da muss man halt selbst testen.

Stadtstrand | Mühlenstraße/Oberbaumbrücke: Der Stadtstand ist eine etwa 30 mal 30 Meter große, sandstandsandausgestreute Fläche neben der unguten Großraumdisse "Speicher". Entsprechend prollverdächtig und mobiltelefonierfreudig ist dann auch das Publikum dortselbst; der Zugang zum Stadtstrand ist zudem so gestaltet, dass man selbst dem wenig schmeichelhaften Verdacht ausgesetzt wird, gerade Gast besagten Etablissements mit angeschlossener Muckibude gewesen zu sein. Zum Hefeweizen für 3,20 wird allen Ernstes ein dünnwandiger 0,5l-Plastikbecher mit der zweifelhaften Ästhetik von Waschmittelportionierern aus den 80er Jahren gereicht. Trotz Spreeblicks: nicht empfehlenswert.

Strandbar Stralau | Tunnelstraße: In Liegestühlen lagernd, schweift der Blick über die Dampferanlegestelle der weißen Flotte zum Allianz-Tower, hinter dem gerade die Sonne versinkt. Von Zeit zu Zeit rumpelt eine S-Bahn über die Elsenbrücke. Bänke und Stühle stehen angenehm weit auseinander. Alles könnte so schön sein, wenn nicht das Barpersonal aus unerfindlichen Gründen den Ghettoblaster auf dem Bardach zwecks Gartenbeschallung auf den üblen Spreeradio-Dudelfunk eingestellt hätte, das Bier nicht lauwarm wäre und nicht nur Becks und Lidl-Handelsmarkenpils zur Auswahl stünden. Sei noch angemerkt, das dies ein Biergarten nach dem Geschmack Ursula von der Leyens wäre, denn mindestens fünf zeugungsfreudige Stralauer Jungfamilien lüfteten hier das vielköpfige Gespons aus. Nicht empfehlenswert.

Orange Orange | Karl-Marx-Allee: Unter dem Sand das Pflaster. Direkt in der Einflugsschneise aus Marzahn, Hellersdorf und Lichtenberg gelegen, lockt dieser Großraumbiergarten ein entsprechend durchwachsenes, junges Publikum an. Es gibt frierende Palmen, ein, zwei Strandkörbe und etliche Bierzelttische und -bänke. Der Hunger lässt sich mit Salat und Grillgut stillen, das Hefeweizen kostet 2,80. Die Beschallung übernimmt entweder die Karl-Marx-Allee bzw. dort lärmende Lkws und Einsatzwagen, später am Ebend auch ein DJ, der akzeptable elektronische Klänge zu Gehör bringt. Bedingt empfehlenswert.

Cassiopeia-Biergarten | Revaler Straße: Auf dem etwas unübersichtlichen Gelände des ehemaligen Rrreichsbahnausbeserrrungswerrrkes Warrrschauerr Strrraße liegt der einzige Biergarten, in dem man erschütternd gut aussehenden, sportlichen jungen Menschen beim Freeclimben zuschauen kann. Diesem Behufe dient nämlich ein übrig gebliebener bizarrer Turmbunker, an dem nunmehr fachkundig geklettert werden darf. Die Kletterer zischen ihr Sportgetränk dann hinterher zwischen jungen, schönen, trendigen Menschen, die der Phantasie eines Seriendrehbuchschreibers entsprungen zu sein scheinen. Passend dazu die Reggae-Musikberieselung, für die ein iPod über einen UKW-Adapter mit einem Gehettoblaster kabellos kommuniziert. Das Hefeweizen kostet 2,80 und ist zu warm, das Publikum zu cool. Bedingt empfehlenswert.

Heinz Minki | Schlesische Straße: Sicherlich gibt es irgend eine langweilige Erklärung dafür, weshalb das HM so heißt, wie es heißt. Interessanter ist aber, dass versteckt hinter einem quaderförmigen Ziegelbau direkt an der Grenze zwischen Treptow und Kreuzberg ein aparter, rundherum abgeschlossener, baum- und strauchbewachsener Biergarten liegt, den noch nicht das traurige Schicksal des Clubs der Visionäre ereilt hat, permanent und hoffnungslos mit Szenemenschen überfüllt zu sein. Auf zwei Ebenen lässt es sich hier auf klassischem Gusseisengartenmobiliar hervorragende Pizza, akzeptable Bratwurst und Hefeweizen für 3,10 verzehren. Wer ein idyllisch-ländlicheses Ausflugslokal mitten in Berlin sucht, hat es im Heinz Minki gefunden. Sehr empfehlenswert.

FaF-Biergarten: Alle Jahre wieder öffnet um Ostern herum der lauschige Biergarten neben dem schönen Filmtheater am Friedrichshain. Unter Linden sitzt man entspannt vor Hefeweizen für 2,80 und Bratwurst, Zwiebelkuchen oder Frischkäsestulle, wartet, bis der Film beginnt oder hängt einfach so ab, erfreut sich an der Beschallung, bei der gerne auch mal ein kompletes Massive Attack-Album abgespielt wird. Für Ursula von der Leyen und Kinder gibt es neuerdings auch allerlei Sitzgelegenheiten. Im Gegensatz zum obercoolen Schönbrunn geht man hier her, um sich einen schönen Abend zu machen, und nicht, um gesehen zu werden. Seit 10 Jahren mein Lieblingsbiergarten. Sehr empfehlenswert.

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