Dienstag, 16. Juli 2002
Ruhe und Frieden
Sit-ZEN-bleiben: S-Bahn-Fahren als meditative Übung
Der Mann auf der Sitzgruppe schräg gegenüber hat sich die Stereoanlage aus dem Ohr gepult und beschallt nicht mehr den ganzen Waggon mit faschistoidem Trashdeathmetal. Der Handyschwätzer auf der Bank hinter mir hat aufgehört, von billigen Flügen in Spanien zu schwafeln; dafür hat ein anderer sein Taschentelefon hervorgeholt und konstatiert pragmatisch: "Doch, ich komme. Ich weiß noch nicht wann, aber ich komme."
Wir sitzen fest. Stagnation auf niedrigem Niveau zwischen den S-Bahnhöfen Wedding und Gesundbrunnen. Eisenbahnerstreik, Signalstörung, 20 Gedenkminuten für den unbekannten Fahrkartenkontrolleur? Die Spekulationen schlagen hoch, derweil das Genörgel erstaunlicherweise ausbleibt. Schließlich scheint die Sonne, es ist Montag, kurz vor 19.00 Uhr, der Wagen ist halbleer und quengelnde Kinder sind auch nicht an Bord. Niemand scheint es eilig zu haben.
Der Zugführer ist auf dem unterwürfigen Trip und entschuldigt sich wortreich für das Herumgetrödel, ungeduldige Fahrgäste seien zwischendurch ausgestiegen, und nun ginge es nur ganz vorsichtig voran. Ja wenn es denn ginge. Doch nur der Wind rauscht in den Blättern, auf der Straße rauscht der Individualverkehr, doch an den Insassen des Zuges rauscht nur die Zeit vorrüber und sonst gar nichts. Die Bahn bewegt sich keinen Zentimeter.
Immerhin, es könnte schlimmer kommen. Eine übermüdete Kita-Gruppe im Waggon, Regen, ein Brand im Nord-Süd-Tunnel. Immer positiv denken.
Der Zugführer betätigt zig mal hintereinander das Türschließsignal (tüü-dee-lüü! für Nichtberliner), schreit in die Sprechanalage "Bitte von den Türen weggehen, der Zug setzt sich in Bewegung", mit drei Ausrufungszeichen. Die Generatoren fangen an zu vibrieren, die Bremse wird gelöst, der Zug ruckt an und - - - steht. Weiter ausharren. Ungeduldige stecken die Köpfe aus den Fenstern (als ob es davon schneller ginge), die Coolen rascheln mit der Zeitung, die Klaustrophobischen werden nervös. Wieder das Lalüü der Türen. Wieder Fehlalarm.
Wer auf den Schienen spazieren geht, darf sich nicht wundern, wenn er sich im Jenseits als mehrteiliges Schiebepuzzle wiederfindet, denke ich gerade bei mir mit einem Anflug von Zynismus, Misanthropismus oder was auch immer, als das Wunder geschieht und tatsächlich doch Bewegung in die paar Hundert Tonnen Stahl und Resopal mit ein paar Leuten kommt. Es geht uns erlköniglich: Wir erreichen den (Bahn-)Hof mit Müh und Not. Ich steige aus. Zu Fuß wäre ich schneller gewesen.
Filmteams überall
Früher waren Dreharbeiten noch etwas Besonderes. Wenn das ZDF oder die ARD einen Fernsehfilm produzierten, oder gar für den jungen deutschen Film die Studios verlassen wurden, stand das sogar in der Zeitung. Schließlich gab es das nicht alle Tage, wenn ganz normale Straßen und ganz normale Häuser stille Statisten von Stars und Sternchen stellten. Schaulustige drängten sich an den Absperrgittern, nur mühsam zurückgedrängt von stolzen Schutzmännern.
Inzwischen ist es so weit gediehen, dass es schon eine Besonderheit ist, mal nicht über Kabel, Klappstühle und wichtige Westenträger mit Walkie Talkies zu stolpern, wenn man am Hackeschen Markt unterwegs ist. Wenn Straßenecken in gleißende Helligkeit getaucht sind, ruft niemand mehr die Feuerwehr, weil die Außerirdischen gelandet seien. Die Anwohner von Kollwitzplatz und Co. dürfen mindestens einmal die Woche ihre Autos in andere Stadtteile verbringen, um Platz für große weiße Lkws zu machen, die bis zum Dach mit Stativen, Scheinwerfern und sonstigem sauteuren Equipment vollgestopft sind.
Bereits Tage vorher weisen zerschrammte Halteverbotsschilder auf das kommende Ereignis hin, und wenn es dann so weit ist, mufft der unvermeidliche Verpflegungswagen erstmal alles mit dem Geruch der Glitzerwelt voll, der sich hier in Pommesfett oder Zwiebelduft äußert. Dann wird die Nacht zum Tag gemacht, bis die Szenen ab- und die Beteiligten durchgedreht sind. Hinterher erinnern Kreidemarkierungen und Müllberge an die 15 Sekunden Berühmtheit der ach-so-typischen Berliner Mietskaserne.
Wer arbeitslos ist und sich für einfallsreich hält, wird Location-Scout: er zieht mit Notizblock und Digitalkamera um die Ecken, um ebensolche (Ecken nämlich) zu finden, die nicht schon tausendmal über die Leinwände und Fernsehbildschirme geflimmert sind. Publicitysüchtige Zeitgenossen richten ihre miese kleine Plattenbaubude wie ein Fabrikloft in Mitte ein und locken Filmteams in ihre ferngeheizte Fickzelle, um kräftig Aufwandsentschädigung abzukassieren. Ampelmasten haben in Passantensichthöhe einen dicken Pelz von Abreißzetteln, die für zwielichtige Agenturen werben, mittels derer man als Statist zum Film gelotst wird. Dass das Foto für die Kartei 500 Euro kostet und diese Kartei von den Produktionsfirmen etwa genauso gern und oft genutzt wird wie das Telefonbuch von Papua-Neuguinea, das wird den hoffnungsvollen Celebrity-Azubis natürlich nicht gesagt.
Polizei, BVG und wahrscheinlich auch die BSR pflegen eigene Abteilungen zur Filmteambetreuung. Der echte Polizeibus mit echten Polizisten beim dramatisch gestellten Verkehrsunfall spült schließlich echtes Geld ins gebeutelte Staatssäckel. Eigentlich wäre es da doch naheliegend, die Filmrechte an der Berliner Haushaltsmisere exklusiv an die Constatin Film zu verkaufen. Dass das Rote Rathaus und die Bankgesellschaft Berlin nahezu Nachbarn sind, verringert den Produktionsaufwand, schließlich müssen dann nur 500 Meter Straße gesperrt werden. Die Constantin muss als Teil des agonischen Kirch-Imperiums schließlich auch aufs Geld schauen. Demnächst auf Video und DVD: Lando rennt - Mario Adorf gibt den Landowsky, Otto Sander spielt Eberhard Diepgen und die Laienspielschaar aus dem Abgeordnetenhaus spielt sich selbst. Wenn also bald Flatterbänder ums Rathaus gewickelt sind und Lkws in der Bonzenvorfahrt parken, sind das nicht unbedingt die Insolvenzverwalter, die die letzten beweglichen Güter zur Zwangsversteigerung abholen.
Haushaltsloch statt Sommerloch - Coming soon to a theatre near you.