Ersatzhandlungen und Leerlaufprozesse

Das Verkaufsgespräch

Es war an einem dieser kalten, ungemütlichen Novembertage, bei denen selbst die berufsmäßig fröhlichen Radiometeorologen die Stirn in Falten legen. Die Abendvorstellungen in den Kinos waren gerade vorüber, und einige verzagte Nachtschwärmer begaben sich, die Hände bis zum Ellbogen in den Manteltaschen vergrabenen, auf den Weg zur nächsten S-Bahn, zum nächsten Grog oder wo auch immer hin. Ich folgte dem müde dahin plätschernden Strom der Passanten die Oranienburger Straße herunter, als sie mich schräg von der Seite ansprach.

Sie, das war eine Dame vom horizontalen Gewerbe. Neben einer weißen Teddyjacke war ihr hervorstechendstes Merkmal die Länge ihrer Beine. Sie überragte mich glatt um einen Kopf. Die Plateauschuhe hätte es weiß Gott nicht mehr gebraucht. Ich bin wirklich nicht prüde (wenngleich ein Amish vermutlich ein erfüllteres Sexualleben führt als ich zurzeit), ich hatte aber weder Zeit, Geld noch Lust, die Dienstleistungen der Asphaltschwalbe in Anspruch zu nehmen. Doch meine soziale Seele befahl mir, mein ablehnendes Kopfschütteln wenigstens mit einem bedauernden Grinsen zu verzieren - das Grinsen, das ich mir sonst immer für Obdachlosenzeitungsverkäufer oder Haste-mal-n-Euro-Schnorrer aufspare.

Doch das leichte Mädchen ließ sich davon nicht abschrecken. "Lass uns wenigstens einen Moment plaudern", bat sie, "es ist so langweilig. Heute Abend ist absolut nichts los." - Okay, Baby, dachte ich. Zehn Minuten gebe ich uns. Der Gesprächseinstieg war unverfänglich. Wo ich herkäme. "Aus dem Kino" antwortete ich wahrheitsgemäß, dabei unbestimmt Richtung Süd-Süd-Ost wedelnd. "Daaa ist ein Kino?" Wow. Das versprach, eine niveauvolle Unterhaltung zu werden. Ich versuchte, die Koordinaten der Z-Bar zu vermitteln - gar nicht so leicht, wenn man sich keine Straßennamen merken kann. Was aber auch nicht wirklich wichtig war - relevanter war schließlich, wo ich hinwolle. "Zur S-Bahn, und dann nach Hause", sagte ich platt - meiner Müdigkeit und dem heraufziehenden Arbeitstag angemessen.

Ich kam mir vor wie auf einer Absturzparty zu früh am Abend. Die Unternehmerin in Sachen käuflicher Liebe hielt krampfhaft das Gespräch im Gang; Abgehakt wurden Tätigkeit, Wohnort und Alter. Immerhin erfuhr ich ihren Künstlernamen, dass sie 22 Jahre alt sei, und eigentlich seit sie 14 oder 15 war, von ihrem aktuellen Dienstleistungsjob geträumt habe. Überhaupt sei das ja alles ganz anders, als man sich das immer so vorstelle. Da sei kein dicker Macker, dem sie ihre Einnahmen abliefern müsse. Es sei auch nicht so, dass sie unter Drogen stünde (zur Untermalung drückte sie sich eine imaginäre Spritze in den Unterarm) - im Gegenteil, sie sei Freiberuflerin, zahle Steuern, müsse sich monatlich beim Gesundheitsamt untersuchen lassen. Und überhaupt zwinge sie niemand zu ihrem Beruf, der ihr vielmehr sogar Spaß mache. (Neue Leute kennenlernen - das sagte sie nicht, das ergänzte ich im Geiste.) Ihre Kunden seien meistens auch so jüngere Männer, Azubis, Studenten, so mit Über-40-Jährigen könnte sie ja nun gar nicht, das wäre ja, als würde sie vor ihrem Vater und so. Ich fand das unglaubwürdig, sagte aber nichts weiter dazu. Die ganze Zeit stand ich unverbindlich neben ihr und störte mich auch nicht an giggelnden Passanten, nickte hin und wieder und kam mir ungeheuer investigativ vor.

Irgendwie kamen wir auf die Preisliste zu sprechen. Sie stellte komplizierte Berechnungen auf, denen ich nicht so ganz folgen konnte, weil mir (mir! Nicht ihr!) in meiner dünnen Jacke inzwischen ziemlich kalt wurde, während sie eine Zigarette beinahe am Filter angezündet hätte, dies dann aber doch rechtzeitig bemerkte und munter weiterplapperte. Gebannt starrte ich auf ihre langen Fingernägel. Unschöne Bilder von Verletzungen, die diese Krallen an empfindlichen Körperteilen hervorrufen könnten, gingen mir durch den Kopf, doch ich lächelte tapfer weiter. 140 Euro für eineinhalb Stunden, ein Hotelzimmer und zwei Frauen sei der Tarif. "Also, zu so einer Halbstundennummer hätte ich ja nun gar keine Lust, Da kommt ja überhaupt keine Stimmung auf. Da müsste ich ja doch zu sehr was vorspielen." Oho, dachte ich. Anspruchsvolle Künstlerin. "Nein, also bei uns läuft das so, etwas plaudern, einen Sekt trinken, erotische Ganzkörpermassage, den Kunden richtig verwöhnen..." Natürlich. Die V-Vokabel musste ja fallen. Ich seufzte innerlich auf. "...eine Lesbenshow - auch ein Grund, weshalb wir immer zu zweit mit dem Kunden mitgehen, so gelenkig bin ich ja nicht, dass ich das alleine bewerkstelligen könnte..." Ich hätte mich glatt vor Lachen auf dem Boden gewälzt, wenn es nicht so kalt und im Grunde genommen unlustig gewesen wäre - "...und der Kunde kann dann auch zweimal abspritzen."

Sie sagte tatsächlich "abspritzen". Ich schreibe das hier nicht, um irgend welche Lustmolche in mein Weblog zu führen. Die grobe Vokabel passte in ihren Leistungskatalog wie Spüli in einen Wodka-Soda. "Klingt nach einem vernünftigen Preis-Leistungs-Verhältnis", urteilte ich fachmännisch. "Mann, jetzt ist mir aber ganz schön kalt", gab nun auch die Dame vom ältesten Gewerbe der Welt zu. "Magst Du nicht doch...?", fragte sie ganz unverbindlich; ohne lügen zu müssen, verwies ich auf das mangelnde Kleingeld und die nicht mitgeführte Bankkarte. "Aber Du kommst mal wieder, oder? Und dann probierst Du es mal aus." Unvorsichtigerweise hatte ich zugegeben, bislang nicht Kunde ihrer Branche gewesen zu sein. Meine gute Erziehung knallte voll durch. "Ja, klar", sagte ich.

Wir gaben uns die Hand, und mir fiel erst einige Meter später ein, was diese Hand sonst so hielt. Zeit, länger nachzudenken hatte ich nicht, denn schon hatte mich die nächste Sirene entdeckt - diesmal eine blonde Haarpracht und geradezu absurde Plateauschuhe und natürlich auch sonst noch so einiges zu Schau stellend - und wollte mich bezirzen. "Danke, ich habe eben schon mit Deiner Kollegin geplaudert", rief ich im Weitergehen; ein Satz, den man auch so und so auslegen konnte. "Danke, ich habe eben Deiner Kollegin schon meine Briefmarkensammlung gezeigt."

Und auch die dritte Dame auf dreihundert sündigen Metern wollte nur kurz plaudern. Doch ich hatte sie durchschaut und eilte zum Bahnhof. Die Prüderie hatte gesiegt.

Merke: Geiz ist nicht geil.

Impressionen ab Zoo

Ich war lange nicht mehr in der "City West" gewesen. An der Ecke Hardenbergstraße, wo früher in der zwielichtigen Bierschwemme "Holst" permanent 1979 vorherrschte, wird das Trottoir inzwischen vom aseptischen Neonschein einer Burger-King-Filiale erhellt. Der Geist der neuen Zeit hat dem anderen Burgerbräter schräg gegenüber zumindest bereits zur Hälfte das Lebenslicht ausgeblasen. "onalds" steht über dem Eingang. Dann doch lieber in die " e hselstube" über dem Frikadellenmonarchen. Im Bahnhof Zoo kurvt eine monströse Reinigungsmaschine umher. Sie ist heißt "titan" und sieht aus wie ein entmenschter Schrubbroboter. Erst auf den zweiten Blick entdecke ich ein orange gewandetes Männchen am Control Panel des Hightechfegers. Lems Phantasien sind also doch noch nicht wahr geworden. In der S-Bahn höre ich übermäßig laut den erfrischenden Sampler "Glücklich", dabei zuweilen glucksend das hervorragende Werk "Geister abschütteln" lesend. Das ist suspekt. Neben mir setzt sich jemand lieber mit größtmöglichem Abstand auf die Armlehne der Sitzbank. Wer nicht nach Schönefeld will, steigt am Ostbahnhof aus. So auch ein Rentnerpärchen, das vor mir durch die Tür määndert. Erstaunlich, wie langsam sich manche Menschen bewegen. In der Erknerbahn riecht es ein bisschen nach geschmolzenem Plastik. Lecker. Am Ostkreuz steige ich aus und entdecke eine in dunklen Blazer, Flanellhemd, weinrote Pluderhosen und Zylinder gewandete Frau, die weiter nach Erkner fährt. Das nenne ich mutig. Der Abend klingt aus mit "Fantastic Plastic Machine". Ich bin seit langem mal wieder zufrieden.

Polemik: Winter-"Urlaub" in Dänemark

Dänische Ferienhausvermieter haben den Winter zum Sommer erklärt: da es offenbar genug dumme Deutsche gibt, denen im Winter nichts Besseres einfällt, ihren Aufenthaltsort merklich näher an den Nordpol zu verlegen, gelten zwischen Weihnachten und Neujahr Hauptsaisonpreise. Unter 250 Euro pro Woche, mit nach oben offener Preisskala, ist keine Hütte zu kriegen.

Man "genießt" die kurzen Tage. Falls es zufällig hell werden sollte, dann nicht vor halb zehn morgens, aber dafür ist um 16 Uhr auch schon wieder finstere Nacht. Die Übergänge sind fließend. Da sich meist dicke Wolken vor die Sonne schieben, aus denen bevorzugt Schneeregen oder Regen, aber nur selten wirklich spaßiger Pulverschnee fällt, kommen die Tage oft genug nicht über ein diffuses Vor-sich-hin-dämmern heraus.

Verständlich. Bei den vorherrschenden Farben der sog. Landschaft - grau und braun in vielfltigen Schattierungen, aber sonst eher farblos - möchte man es dem Tag gleich tun und ebenfalls weiterdämmern. Das Rausgehen in die eintönige, waldfreie, von Agrarnutzflächen dominierte und hier und da durch Gehöfte mit angeschlossener Nerzfarm bzw. sonstigen Vieh-KZs aufgelockerte Landschaft lohnt also nicht, verbietet sich aber sowieso - wegen des Wetters: entweder es regnet in Strömen, oder es stürmt, oder es ist so kalt, dass einem der Rotz in der Nase gefriert.

Als Alternative zum Wachkoma bietet sich eine Zeitgestaltung im Rhythmus Fressen - Schlafen - Fressen - Schlafen - Fressen - Schlafen an. So muss sich ein Haustier vorkommen, das den ganzen Tag eingesperrt ist. Aufgelockert werden kann dieser Rhythmus einzig durch die Zufuhr ungesunder Mengen alkoholischer Getränke.

Hieraus ergibt sich ein weiteres Problem. Die dänische Preisgestaltung nämlich. Die Dänen haben bislang dem Euro entsagt, dort bezahlt man weiterhin mit Geldstücken mit Loch in der Mitte bzw. überraschend scheußlichen Scheinen. Dabei ist die Krone im Vergleich zur paneuropäischen Panikwährung verblüffend stark. Wer schon immer mal über 2 Euro für einen Liter Vollmilch ausgeben oder sechs Euro für eine lumpige Tafel Schokolade bezahlen wollte, hat bei den zahlreichen Dorf-Kaufmannsläden gute Gelegenheit hierzu.

Sparsamere Geister erhoffen sich moderatere Preise in den Einkaufsläden in sogenannten größeren Städten (d.h. 25.000 Einwohner aufwärts), werden jedoch beim Betreten der ortsüblichen Supermärkte namens Brugsen oder Kvickly eines Besseren belehrt. Auch hier kostet das eingeschweißte Schwarzbrot umgerechnet drei Euro (was bei uns für 99 Cent in den Regalen liegt), auch hier lassen sich die Alkoholpreise paradoxerweise nur im Vollrausch ertragen (Sechserpack Bier 5 Euro, na - wir haben es ja). Daneben gibt es außer den auch hier bekannten Discountern Netto und Aldi noch Rema 1000 und Eurospar, aber die Mühe lohnt auch nicht wirklich.

Während die Dänen überdurchschnittlich gut zu verdienen scheinen und jeden Tag in ihren kleinstädtischen Fußgängerzonen verbringen, um ordentlich die heimische Wirtschaft anzukurbeln, bleibt dem Touristen beim Umrechnen die Luft weg. Sowieso gibt es ein Überangebot an Klamottenläden - die Dichte "ein Bekleidungsgeschäft auf 50 Meter" in den Einkaufsparadiesen ist sicherlich nicht zu hoch gegriffen. Im Ausverkauf (Frit Valg) kann man dann zwei Pullover zum Preis von einem erstehen, wobei der Sonderpreis dann immer noch bei umgerechnet 60 Euro liegt. Verzichte dankend. Geradezu aberwitzig sind die Preise von Schuhen, Haushaltsgeräten, Unterhaltungselektronik oder dänischen Design-Artikeln. Shopping als Zeitvertreibsalternative kommt nur für Urlauber in Frage, die zuhause das Finanzamt betrügen oder zu den Absahnern der New Economy zählten (ein paar soll es ja gegeben haben).

Überhaupt die Dänen. An jeder Ecke und auf allem, was sich irgendwie bedrucken, besticken, anmalen oder sonstwie rot-weiß färben lässt, grinst einem der Danebrog, die dänische Nationalfahne entgegen. Eine Tankstellenkette heißt übersetzt "Fahre Dänisch" (kør dansk). Es gibt Dansukker, Danfoss, Dandies, Dandas - jeder Unternehmer, der etwas auf sich hält, benennt seine Zweimannklitsche dänisch-national. Man stelle sich den Aufschrei der zwanghaft politisch Korrekten vor, wenn es plötzlich hierzulande eine Benzinmarke "Deutsch Fahren" gäbe, die Bundesfarben so inflationär verspritzt würden wie im Königreich über Schleswig-Holstein oder außer ehemaligen Staatsunternehmen noch mehr Firmen auf die Idee kämen, laut und deutlich im Namen das Land herauszubrüllen, in dem sie keine Steuern bezahlen. Die Dänen hingegen dürfen das.

Kein Wunder also, dass die dänischen Kryptofaschisten so prominent im Parlament vertreten sind und die Gesetze deutlich die Sprache der Xenophobie sprechen. Die Dänen mögen sich im Sommer überrollt von der Flutwelle deutscher Badetouristen vorkommen - im Winter lassen sie dafür ihre Abneigung allem Nicht-Dänischen gegenüber freien Lauf. Schon ihre Sprache ist fremdenfeindlich. Gedrucktes und Geschriebenes lässt sich gerade noch so übersetzen. Sobald ein Däne jedoch den Mund aufmacht, quellen dort unartikulierte Laute ohne Punkt, Komma und Konturen heraus. Es ist ein Wunder, dass Dänen (sofern sich welche begegnen, was außerhalb der Ballungsräumchen dank der dünnen Besiedelung so gut wie nie passiert) sich überhaupt untereinander verstehen.

So wenig Spaß - für so viel Geld. Zu der teuren Miete für mehr oder weniger winzige Ferienhäuser kommt am Ende des sogenannten Urlaubs noch ein dreimal so hoher Batzen für den Stromverbrauch. Dänische Ferienhäuser sind grundsätzlich mit Heizgeräten ausgestattet, die unglaubliche Mengen Strom (Elektrizität) verschlingen, um mit einem sensationell geringen Wirkungsgrad ein verblüffend schlechtes Raumklima zu erzeugen. Hinzu kommt der E-Herd, der konsequente Verzicht auf Energiesparlampen - statt dessen ein Faible für Beleuchtungskörper, bei denen mindestens drei 60-Watt-Glühbirnen in jede denkbare Richtung vor sich hin strahlen, nur nicht dorhin, wo das Licht gebraucht wird - sowie weitere geschickt im Haus der Luxuskategorie verteilte Stromfresser: Dunstabzugshaube, auf Stand-By vor sich hin brutzelnde TV-Geräte, Radios, Satellitenantennen etc. Da die Dänen zu viel Strom haben - bei der Landschaftsbeschreibung habe ich jetzt doch glatt die hervorstechendsten Landschaftsmerkmale, die abertausenden Windräder, vergessen - kann das 5-Millionen-Völkchen wohl unbeschwert mit der Energie herumasen. Den dummen Touristen wird dann die Quersubvention der Verschwendungssucht aufs Auge gedrückt: Mit 24 Cent/kwH ist man dabei.

Fazit: Dänemark im Winter ist genau das richtige Land für einen ziemlich beschissenen Urlaub. Wie es im Sommer ist, weiß ich nicht. Aber wohl auch nicht besser. Nur anders. Wenn die Fauna, die noch nicht totgeschossen oder überfahren wurde - alle Dänen jagen und/oder fahren sehr seltsam Auto -, aus dem Winterschlaf erwacht, kommt wahrhaftig Leben in die Bude. Die hohe Anzahl von Fliegenklatschen in der diesjährigen Ferienunterkunft (pro Zimmer eine) verheißt jedenfalls nichts Gutes.

Umsteigen in Büchen

Ein nebliger, feuchtkalter Dezemberabend. Im fahlgelben Licht der Natriumdampflampen verschwimmen die Konturen der Wartenden. Das Perron beschreibt eine sanfte Kurve, deren Ende im Dunkel der schleswig-holsteinischen Einöde verschwindet. In einer Viertelstunde kommt der Regionalexpress nach Lübeck. Aus der warmen Geborgenheit des EC Porta Bohemica Prag – Berlin – Hamburg auf Gleis 4 des Dorfbahnhofes ausgespuckt, warten wir nun am Gleis 14 auf den Zug nach Lüneburg oder eben am Gleis 41 auf das Ferkeltaxi zur Marzipanmetropole. Die Gleise 2-13 und 15-40 existieren übrigens nur in der schmutzigen Phantasie der Bahnschaffenden.

Büchen. Ex-Grenzbahnhof für die Interonenzüge von Lübeck nach Berlin. Erinnerungen an das ewige Warten, bis sich der Zug gen DDR in Bewegung setzte, von geschäftstüchtigen Bahnhofsmissionarinnen dafür genutzt, gegen Spende kaffeeähnliche lauwarme Plörre an die Reisenden zu verteilen. In einem Kaff, dessen Namen ich vergessen habe und wo seit 1990 zur Strafe kein einziger Zug mehr hält, dann das drollige Procedere der ostdeutschen Staatsgewalt mit Spiegeln und Hunden außen und Koffer und Stempel innen. Die endlose Fahrt über schlechte Gleise in wahlweise überheizten oder unterkühlten Reichsbahnwaggons auf kackbraunem Kunstledersitzen, der Blick auf schnell durchfahrene Dörfer, klinkerrot oder farbmangelgrau. Bis endlich, endlich die Ankunft in Berlin Zoologischer Garten (Zool Grt, wie es auf den Fahrkarten immer stand) vermeldet wird. Berlin (West), Ende der Achtziger Jahre, Studienort von einem meiner vielen großen Brüder, der damals unverhältnismäßig oft den Besuch aus der norddeutschen Provinz über sich ergehen lassen musste.

Der Regionalexpress kommt. Außen rot, innen ein Traum in orangem bzw. minzgrünem Resopal, kombiniert mit kleinkariert braun-orange bezogenen Sitzen mit braunen Kunststoffkopfstützen in der zweiten und das selbe in blau in der "ersten" Klasse (letztere leer, da eine Bierlache den Priviligierten das Fahrvergnügen vergällen würde). Auf der Sitzbank auf der anderen Seite des Ganges (nein, nicht in Indien) eine vermutlich allein erziehende emanzipierte, tolerante, moderne Mutter mit ihrem in teure Markenklamotten gehüllten, hässlichen, übergewichtigem etwa elfjährigem Blag, das sinnfreie Vorträge über die Benamsung seiner Ü-Eier-Figuren hält. Glücklicherweise muss ich das Gestammel des Fettklopses nicht über mich ergehen lassen. Ich fingere meinen Minidiscplayer wieder aus der Tasche. Moby singt, we are all made of stars. Glaube ich gerne: schließlich hat der Quälgeist von der letzten Bank ein dezidiertes Mondgesicht. Ich weiß, dass der Mond kein Stern ist, danke. Ich weiß auch, dass 2000 nicht die Jahrtausendwende war. Zufrieden, ihr Erbsenzähler unter der Sonne? Gut. Wegtreten.

Der Zug kommt pünktlich in Lübeck an. Der Bahnhof ist so schäbig und kalt wie eh und je. Aber ab und zu muss man sich das Abenteuer Bahnfahrt einfach mal geben. Es erweitert den Horizont.

Oder so.

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