Ersatzhandlungen und Leerlaufprozesse
Samstag, 21. Dezember 2002

Umsteigen in Büchen

Ein nebliger, feuchtkalter Dezemberabend. Im fahlgelben Licht der Natriumdampflampen verschwimmen die Konturen der Wartenden. Das Perron beschreibt eine sanfte Kurve, deren Ende im Dunkel der schleswig-holsteinischen Einöde verschwindet. In einer Viertelstunde kommt der Regionalexpress nach Lübeck. Aus der warmen Geborgenheit des EC Porta Bohemica Prag – Berlin – Hamburg auf Gleis 4 des Dorfbahnhofes ausgespuckt, warten wir nun am Gleis 14 auf den Zug nach Lüneburg oder eben am Gleis 41 auf das Ferkeltaxi zur Marzipanmetropole. Die Gleise 2-13 und 15-40 existieren übrigens nur in der schmutzigen Phantasie der Bahnschaffenden.

Büchen. Ex-Grenzbahnhof für die Interonenzüge von Lübeck nach Berlin. Erinnerungen an das ewige Warten, bis sich der Zug gen DDR in Bewegung setzte, von geschäftstüchtigen Bahnhofsmissionarinnen dafür genutzt, gegen Spende kaffeeähnliche lauwarme Plörre an die Reisenden zu verteilen. In einem Kaff, dessen Namen ich vergessen habe und wo seit 1990 zur Strafe kein einziger Zug mehr hält, dann das drollige Procedere der ostdeutschen Staatsgewalt mit Spiegeln und Hunden außen und Koffer und Stempel innen. Die endlose Fahrt über schlechte Gleise in wahlweise überheizten oder unterkühlten Reichsbahnwaggons auf kackbraunem Kunstledersitzen, der Blick auf schnell durchfahrene Dörfer, klinkerrot oder farbmangelgrau. Bis endlich, endlich die Ankunft in Berlin Zoologischer Garten (Zool Grt, wie es auf den Fahrkarten immer stand) vermeldet wird. Berlin (West), Ende der Achtziger Jahre, Studienort von einem meiner vielen großen Brüder, der damals unverhältnismäßig oft den Besuch aus der norddeutschen Provinz über sich ergehen lassen musste.

Der Regionalexpress kommt. Außen rot, innen ein Traum in orangem bzw. minzgrünem Resopal, kombiniert mit kleinkariert braun-orange bezogenen Sitzen mit braunen Kunststoffkopfstützen in der zweiten und das selbe in blau in der "ersten" Klasse (letztere leer, da eine Bierlache den Priviligierten das Fahrvergnügen vergällen würde). Auf der Sitzbank auf der anderen Seite des Ganges (nein, nicht in Indien) eine vermutlich allein erziehende emanzipierte, tolerante, moderne Mutter mit ihrem in teure Markenklamotten gehüllten, hässlichen, übergewichtigem etwa elfjährigem Blag, das sinnfreie Vorträge über die Benamsung seiner Ü-Eier-Figuren hält. Glücklicherweise muss ich das Gestammel des Fettklopses nicht über mich ergehen lassen. Ich fingere meinen Minidiscplayer wieder aus der Tasche. Moby singt, we are all made of stars. Glaube ich gerne: schließlich hat der Quälgeist von der letzten Bank ein dezidiertes Mondgesicht. Ich weiß, dass der Mond kein Stern ist, danke. Ich weiß auch, dass 2000 nicht die Jahrtausendwende war. Zufrieden, ihr Erbsenzähler unter der Sonne? Gut. Wegtreten.

Der Zug kommt pünktlich in Lübeck an. Der Bahnhof ist so schäbig und kalt wie eh und je. Aber ab und zu muss man sich das Abenteuer Bahnfahrt einfach mal geben. Es erweitert den Horizont.

Oder so.

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