Ruhe und Frieden
Sit-ZEN-bleiben: S-Bahn-Fahren als meditative Übung
Der Mann auf der Sitzgruppe schräg gegenüber hat sich die Stereoanlage aus dem Ohr gepult und beschallt nicht mehr den ganzen Waggon mit faschistoidem Trashdeathmetal. Der Handyschwätzer auf der Bank hinter mir hat aufgehört, von billigen Flügen in Spanien zu schwafeln; dafür hat ein anderer sein Taschentelefon hervorgeholt und konstatiert pragmatisch: "Doch, ich komme. Ich weiß noch nicht wann, aber ich komme."
Wir sitzen fest. Stagnation auf niedrigem Niveau zwischen den S-Bahnhöfen Wedding und Gesundbrunnen. Eisenbahnerstreik, Signalstörung, 20 Gedenkminuten für den unbekannten Fahrkartenkontrolleur? Die Spekulationen schlagen hoch, derweil das Genörgel erstaunlicherweise ausbleibt. Schließlich scheint die Sonne, es ist Montag, kurz vor 19.00 Uhr, der Wagen ist halbleer und quengelnde Kinder sind auch nicht an Bord. Niemand scheint es eilig zu haben.
Der Zugführer ist auf dem unterwürfigen Trip und entschuldigt sich wortreich für das Herumgetrödel, ungeduldige Fahrgäste seien zwischendurch ausgestiegen, und nun ginge es nur ganz vorsichtig voran. Ja wenn es denn ginge. Doch nur der Wind rauscht in den Blättern, auf der Straße rauscht der Individualverkehr, doch an den Insassen des Zuges rauscht nur die Zeit vorrüber und sonst gar nichts. Die Bahn bewegt sich keinen Zentimeter.
Immerhin, es könnte schlimmer kommen. Eine übermüdete Kita-Gruppe im Waggon, Regen, ein Brand im Nord-Süd-Tunnel. Immer positiv denken.
Der Zugführer betätigt zig mal hintereinander das Türschließsignal (tüü-dee-lüü! für Nichtberliner), schreit in die Sprechanalage "Bitte von den Türen weggehen, der Zug setzt sich in Bewegung", mit drei Ausrufungszeichen. Die Generatoren fangen an zu vibrieren, die Bremse wird gelöst, der Zug ruckt an und - - - steht. Weiter ausharren. Ungeduldige stecken die Köpfe aus den Fenstern (als ob es davon schneller ginge), die Coolen rascheln mit der Zeitung, die Klaustrophobischen werden nervös. Wieder das Lalüü der Türen. Wieder Fehlalarm.
Wer auf den Schienen spazieren geht, darf sich nicht wundern, wenn er sich im Jenseits als mehrteiliges Schiebepuzzle wiederfindet, denke ich gerade bei mir mit einem Anflug von Zynismus, Misanthropismus oder was auch immer, als das Wunder geschieht und tatsächlich doch Bewegung in die paar Hundert Tonnen Stahl und Resopal mit ein paar Leuten kommt. Es geht uns erlköniglich: Wir erreichen den (Bahn-)Hof mit Müh und Not. Ich steige aus. Zu Fuß wäre ich schneller gewesen.