Mitten in Mitte: Der Mudd Club
Wahre Sensibelchen sind meine Augen und Lungenflügel, wenn es um deren Versorgung mit Frischluft geht. Ist der Anteil an Sauerstoff zu gering und Zigarettenrauch zu hoch, fangen sie an zu jucken. Und da man sich innen drin nicht kratzen kann und die Augen auch so schlecht wieder einzusetzen sind, wenn man sie sich einmal rausgekratzt hat, bleibt also nur dem stummen Schrei der Körperteile Folge zu leisten und die Umweltbedingungen umgehend wieder zu verbessern.
Die Lesebühnenveranstaltung "Surfpoeten" führte mich in den Mudd Club. Der ist in einem Kellergewölbe mitten in Mitte, also fürchterlich "angesagt" (oder "in" oder "hip" oder was die jungen Leute heutzutage so sagen). Und füllt sich in geradezu exponentieller Manier: Um kurz nach 9 war erst wenig Volk anwesend, freie Platzwahl zwischen Bierzeltbänken und Bistrostühlen, VIP-Gäste-betuttelndes Tresenpersonal, sich auf die Veranstaltung vorbereitende Künstler, und: eine Be- und Entlüftungsanlage, die noch nicht hoffnungslos überfordert war.
Da es am Eingang nur den obligatorischen Stempel, aber keine Karte gibt und ich auch keine Strichliste gesehen habe, wird so lange eingelassen, bis es wirklich nicht mehr geht und vielleicht noch ein bisschen länger. Das war so gegen 21.30 der Fall, wo eine Enge herrschte wie zur Rushhour in der S-Bahn zwischen Friedrichstraße und Alex. Die Geräuschkulisse gemahnte an eine wenig wohlerzogende Schulklasse, wenn der Lehrer zehn Minuten zu spät kommt, und da vom Trend zum Nichtrauchen nichts zu verspüren war, brauchte es dann auch bald keinen Trockennebel, um mystisch wabernde Schwaden die Blinkelichter der Diskokugel verzerren zu lassen. Dankenswerterweise aß aber irgendwo jemand Zitrusfrüchte, was zumindest anfänglich der Luftqualität noch zuträglich war.
Erstaunlich genug: das infernalische Getöse pegelte sich beim Beginn des nächsten Vortrags brav immer auf nahezu null herunter, um nach dessen Ende und Beklatschung sofort wieder anzuschwellen - und zwar nicht in unverminderter, sondern sogar gesteigerter Lautstärke, weil alle immer lauter brüllen mussten, weil alle immer lauter brüllten. Wer nicht brüllte, tippte auf seinem Mobiltelefon herum oder holte sich Getränkenachschub. Leider führte der Weg zum Thresen für einen Gutteil der Anwesenden direkt an der von mir mit genutzen Sitzreihe vorbei, so dass die ganze Zeit Kinofeeling aufkam (bequemer - nicht bequem, nur bequemer - hinsetzen - Platz machen - bequemer hinsetzen - Platz machen etc.).
Noch leiderer kostet das Bier (Staropramen, wusste gar nicht, dass es das auch in 0,33er Kinderportionen gibt) satte Dreifünfzig. Mitte eben. Und neben mir war eine blondierte Enddreißigerin, die nicht still sitzen konnte, zwanghaft an ihrem Taschentelefon herumnestelte und (wie auch zu viele andere Anwesenden) noch die flachste Pointe oder irgendwie lustig auszulegende Äußerung mit glucksendem Kurzlachen quittierte. Ach, was haben wir uns amüsiert.
Bis halb zwölf hielt ich durch, dann war mir Sauerstoff wichtiger als (Vor-)lesestoff. Heftig um mich tretend bahnte ich mir den Weg durch die Zigarettenqualm und Kondenswasser absondernden Menschenmassen.
Mudd Club? Mudd nicht nochmal sein.