Ersatzhandlungen und Leerlaufprozesse

Berlin im Backwahn

Berlin-Friedrichshain erfreut sich einer immensen Zahl von Bäckereien. Statistisch gesehen, liegt von jedem Punkt des Stadteils in maximal 200 Metern Entfernung eine Bäckerei - oder zumindest etwas, das so aussieht. Diese Geschäfte haben meistens gleich noch ein umfängliches Sortiment an Getränken, und oft gibt es dort nicht nur das Brot, sondern auch den Belag mit dazu. Hinzu kommen Öffnungszeiten, die überzeugten Anhängern der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten schlimme Alpträume verursachen.

Das Tollste an diesen Spätverkaufsstellen mit Tiefkühlteiglingauftaustation sind aber die Namen. Um Familienbetriebstradition zumindest vorzugaukeln, überbieten sich die Betreiber gegenseitig im Ersinnen möglichst betulicher, trutschiger Bezeichnungen.

Eher einfallslos ist die Bezeichnung "Neue Bäckerei", und "Bäckerei 2000" ist seit sechs Jahren altbacken (welch' Metapher!). Verhältnismäßig zahlreich ist hier im Kiez die „Bäckerei Süss“ (mit ss statt mit ß) vertreten, nicht zu verwechseln mit der Bäckerei "Nuss". Und wo wir eh gerade bei Früchten sind: Schön ist auch der Name der „Bäckerei und Konditorei Olive“, die bei mir ums Eck zu finden ist („Ich hätte gerne eine Olivenmakrone...“). Die „Bäckerei Engel“ hat den Namen eines vorher dort ansässigen alt-berliner Unternehmens übernommen, weil er so schön klang.

Orginalitäts-Spitzenreiter ist jedoch die „Fröhliche Bäckerei“ am S-Bahnhof Frankfurter Allee. Nein, nicht „Bäckerei Fröhlich“ - genau andersrum. Wie bei Heinrich König und König Heinrich.

Ich stelle mir vor, dass ein typisches Verkaufsgespräch dort so ablaufen müsste: Kunde (unausgeschlafen, verkatert etc.): „nmorgn.“ Verkäuferin: „Hallihallihallooo, ein wundersuperduperschönesgutes Mörgenchen! Was darf ich Ihnen Schönes verkaufen?“ Kunde: „Zweeschrippn. Und schreinsedochnichso.“ Verkäuferin (tänzelt zum Brotregal): „Zwei Schrippen, aber gerherne doch! Dann werde ich mal zwei von unseren knusperfrischen Goldstückchen in ein Tütchen packen, nicht wahr?“ (Jongliert noch ein bisschen mit den Brötchen, bevor sie sie in eine mit Blümchenmuster bedruckte Papiertüte kullern lässt.) Kunde (fassungslos): "---" Verkäuferin (trällert): „Sodele, drin wären sie. Darf es sonst noch etwas sein, ein extra gesundes Vollkornbrot oder ein Stückchen Kuchen für den Kaffee heute Nachmittag?“ Kunde: „Nee, lassensema. Is allet“ Verkäuferin: „Sehr wohl, dann bekomme ich Vierundsechzig klitzekleine Cent von Ihnen, wenn’s recht ist.“ Kunde (bezahlt mit Ein-Euro-Stück): "hmhm." Verkäuferin: „Ein Euro, vielen Dank! Hach, der glänzt ja noch so schön, haben Sie den selbst gemacht oder für mich geputzt? Hahahaha! Und - klimper, klimper - sechunddreißig Cent zurück! Damit sie was in der Tasche haben! Ich wünsche Ihnen noch einen wundervollen, erfolgreichen Tag! Besuchen Sie uns doch mal wieder!“ Kunde: „mbrmpf.“ (verlässt eilig die Bäckerei und begibt sich in den grauen, verregneten Morgen und zwischen die Fertigen und Kaputten am S-Bahnhof Frankfurter Allee.)

Die Wirklichkeit ist wohl wieder einmal weitaus profaner, und das Brot nicht besser und nicht schlechter als irgendwo sonst. Und die Bäckerblume bekommt man da bestimmt auch nicht. Schade.

Eine Minute Zivilisationsausfall

Vattenfall Europe Berlin (kurz: VEB) hat einen Brief an die Hauseingangstür geklebt. Man sei ja der tollste Stromlieferant überhaupt, aber leider, leider müsse man kommende Woche eben kurz mal den Saft abdrehen. Das ist so ungefähr die Quintessenz etlicher Zeilen Marketingeschwurbels, die hübsch um ein paar Lücken im Text (am ___ von ___ bis ___ für ca. ___) herum angeordnet sind.

Das Zeitfenster des geplanten Blackouts: Montag morgen zwischen acht und neun für eine Minute. Eine ganze Minute ohne Strom. Da wird dann also mein Nachbar, mit dem ich mir den Router teile, kurz mal seine Computerballerspiele unterbrechen müssen, die Kaffeemaschine wird vorübergehend aufhören zu röcheln, die ältliche Stereoanlage wieder einmal Uhrzeit und sämtliche Sender vergessen und möglicherweise der Radiowecker seinen Verpflichtungen nicht nachkommen.

Nur um Kühl- und Gefrierschrank muss man sich keine Sorgen machen, das weiß auch der schwedische Strommoloch und gibt, um sein Callcenter vor Anrufen besorgter Hausfrauen zu verschonen, qua Fußnote den beruhigenden Hinweis, dass mit Kühl- und Gefriergut nichts passiere, lasse man während der Stromunterbrechnung einfach die Kühlschranktür zu. (Zumal es ja dann sowieso nichts bringt, nachschauen zu wollen, ob die Beleuchtung wirklich aus ist.)

Der wahre Grund für die Abschaltung wird sowieso eine kleine Machtdemonstration in Zeiten der Strommarktliberalisierung sein. Marode Hochspannungsmasten, die unter der nächsten Schneelast zusammenbrächen, sucht man schließlich im Kiez vergebens. Und als Vattenfall noch Bewag hieß und legaler Monopolist war, haben die auch nicht einfach mal ihre ganz, ganz große Sicherung herausgedreht. Zumindest nicht in Friedrichshain bzw. in den 13 Jahren, in denen ich dort wohne. Schön, repräsentativ ist das jetzt nicht direkt, aber verdächtig ist es doch. Denn auf diese Weise kann der Stromschwede ganz einfach zeigen, wo der gelbe, grüne, rote und violette Strom der ganzen kleinen Krauter herkommt: auch nur von ihm. Wer also achselzuckend vor dem Wattenvallwisch steht und denkt: „Was geht’s mich an, ich bin doch bei nuon“, wird dann am Montag morgen - Überraschung! - genauso wenig den elektrischen Wasser- oder Eierkocher vertrauen können wie der Rest der Hausbewohner auch.

Dafür geht dann VEB ein doch recht hohes Risiko ein. Wer erinnert sich nicht dunkel (!) an den Stromausfall im August 2003, während dem halb Nordamerika und Kanada nach ein bisschen Herumgespiele an den Leitungen für einige Tage komplett vom Netz gingen. So wird es auch in Berlin kommen! Friedrichshain wird der erste Dominostein sein, und dann fallen Kreuzberg, Mitte, Schöneberg bis herunter nach Zehlendorf und Potsdam. Also schnell noch Diesel fürs Notstromaggregat bunkern!

Am Tag darauf wollen übrigens die Berliner Wasserbetriebe eine Stunde lang ihr kostbares Nass ganz allein für sich behalten. Nur die Gasag plant bislang noch nicht, unter fadenscheinigen Gründen kurz mal ihre Pipelines zuzustopfen. Aber was nicht ist, kann ja noch kommen. Insbesondere, wo nun auch der Gasmarkt freigegeben werden soll.

Polemik: Die BVG als WM-Trittbrettfahrer

„BVG – Unser Spielfeld heißt Berlin: Unsere Mannschaft steht bereit“ tickert auf den Anzeigegeräten in den Berliner U-Bahnhöfen durch, anstatt dass dort der übernächste Zug der unbeliebten Verkehrsbetriebe („Bummelzüge, Verspätungen, Grantiges_personal“) angekündigt wird.

Wieder einmal beweist die BVG ihre spandauartige Piefigkeit. Wer denkt sich solche Slogans bloß aus? Vermutlich derselbe, der die nahverkehrsfachbegriffverseuchten Beiträge der unguten Kundenpostille „BVGplus“ verzapft, an denen allerhöchstens Pufferknutscher ihre Freude haben.

Bevor jetzt alle Spandauer auf die Barrikaden gehen (direkt von den Spandau Arcaden wäre ein guter Platz dafür): Genau betrachtet bzw. analysiert, klingt der Spruch, mit dem die BVG kurz vor zu spät auf den WM-Zug aufspringen (haha, tolle Metapher!) will, eigentlich doch nicht so sehr nach Schrebergarten, Schultheiss und Schnauzbart. Nein, er hat für mich (zugegeben: absolut fußballunbegeisterten Nörgelbold) eher einen muffigen Beigeschmack in der Richtung Kasernenschlafsaal oder Männerumkleidekabine. Die DDR-Wehrsportgruppe GST lässt grüßen, oder Schlimmeres. „Allzeit bereit“ assoziiere ich, oder auch „Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden“.

Und der Wahrheitsgehalt? Zwar wurde das Personal zu Sprach- und Höflichkeitsschulungen verdonnert, aber bei einem gestandenen BVG’ler bringt diese milde Form der Gehirnwäsche etwa genau so viel wie der Versuch, im 20°-Schonwaschgang Fahrradölflecken aus einer hellen Hose herauszubekommen. Und hinterher ist es dann meistens schlimmer als vorher. (Man stelle sich den Busfahrer vor, der dann auf Englisch hämisch grinst, wenn er einem spurtenden Mitfahrwilligen zuschaut und dann kurz vor dessen Zielerreichen die Türen schließt. Oder ins Mikrofon bellt: „I want your ticket see, bevore I drive not further. I have time!”)

Und dass zum Wohle der Fußballschlachtenbummler mehr Züge, Busse und Fähren fahren, sei dahingestellt. Trotz aller Elektronik muss ja immer noch vorne eine(r) drin sitzen, der Knöpfchen drückt, Kurbeln und Räder betätigt und Pedale drückt. Nun kann man zwar Bussfahrer mit „k.w.“-Vermerk zu Call-Center-Agents umpolen, aber eben nicht umgekehrt, und von massenhaften Neueinstellungen bei der BVG war in den Berliner Blättern nichts zu lesen.

Statt Sportlern mit halsbaumelnden Eintrittskarten wie zur Leichtathletik-WM werden diesmal also (alkohol-)fahnenschwenkende Fußballfans für Full House im Nahverkehr sorgen. Wobei das ja auch ein gutes hat, setzt man verstopfte U-Bahn-Eingänge mit Fußballtoren gleich, bei denen jeweils 10 Keeper zwischen den Pfosten stehen. Ein Eigentor ist dann so gut wie ausgeschlossen – wenngleich die BVG hier sicherlich auch noch den Gegenbeweis antreten wird.

Feels like Warenhaus

Ich mag die Karstadt-Filiale in der Turmstraße. Sie ist nicht weit von meinem derzeitigen Lieblingsarbeitgeber entfernt, und man erhält dort meistens so ziemlich alles. Wenn mir also während der Schicht siedendheiß einfällt, dass ich noch ein Klemmbrett und 50 Gramm Stecknadeln brauche, genügt die Überquerung der gefährlichen Turm- und Stromstraßenkreuzung, schon bin ich da und kann mich mit solchen und ähnlichen Essentials eindecken.

Auch ist - wohl auch dem übel beleumundeten Moabiter Umfeld bzw. der vorherrschenden mangelnden Kaufkraft geschuldet - dieses Karstadt noch so richtig warenhausmäßig. Es ist keine durchgestylte Glitzermeile, kein Konsumtempel, kein „Einkaufserlebnis“. Man geht dort nicht „shoppen“. Man macht dort Besorgungungen. Karstadt-Turmstraße, das sind Kugelschreiberminen, lange Unterwäsche, Dosenöffner und Verlängerungskabel. Vollkommen unsexy, aber auch völlig unverzichtbar.

Auch das Personal weist eine angenehme Schrulligkeit auf. Besonders lohnenswert ist es, in der Haushaltswarenabteilung, an die sich das Tierfutterregal anschließt, hinter der Farben, Lacke, Klebstoffe und Autozubehör aufgereiht sind, nach Fahrradöl zu suchen bzw. zu fragen. Ein Mittfünfziger im rotkarierten Flanellhemd, mit krauser Lockenpracht und beeindruckender Warze war gerade damit beschäftigt, Säcke mit Blumenerde - auch die bekommt man interessanterweise dort - ins Regal zu wuchten. Das einzig ölartige, was ich bis da gefunden hatte, war eine Kombination aus Feinöl, Rostlöser und Korrosionsschutz, das Fläschchen für 3,49 €. Folglich frug ich das Flanellhemd, ob auch irgendwo richtiges Fahrradöl stünde.

„Aaach, die Leute ölen immer so viel! Was wollen Sie denn damit ölen?“ sprach der Verkäufer. „Die Kette. Sie quietscht.“, gab ich eine Fahrrad-Schadensanalyse. „Ölen, ölen, dabei verklebt doch alles, und hinterher wundert man sich dann über die eingesauten Hosen. Nehmen Sie doch erst einmal einen Lappen und machen Sie die Kette sauber.“ - „Habe ich schon, quietscht immer noch.“ - „Na, das Zeug da würde ich dann aber nicht nehmen. Das ist nur, um festsitzende Schrauben zu lösen, wenn Ihnen der Auspuff abgefallen ist oder so. Das zerfrisst auf Dauer auch das Material wissen Sie?“ (Wusste ich nicht. Und was hatte der Auspuff damit zu tun?) „Haben Sie denn kein Emmohess-Spray?“ Ratloser Blick meinerseits. „Na dann kommse mal mit. Das hieß früher Waffenöl“, raunte mir der Verkäufer verschwörerisch zu. „Oh, oh, oh, das ist ja auch schon wieder fast alle, da müssen wir ja mal wieder nachbestellen“, stellte mein Fachberater fest, als er in einem in der Tat recht leeren Regalfach nach einer der letzten Dosen des Wundermittels fischte. „Hier, das hilft gegen alles, da können Sie auch die Mechanik und die Bremsen mit behandeln. Das verwenden auch die Laubenpieper, für Scharniere und so etwas.“

Das war ja nun wirklich eine aussagekräftige Referenz. Ich merkte: Dieser Mann sprach aus Erfahrung. Eigenerfahrung. Ich sah ihn vor mir, wie er auf seinem Schrebergartengrundstück in Spandau die kreischende Tür des Plumpsklos mit MoS-Spray behandelte und hinterher dann in vollkommener Lautlosigkeit das Örtchen aufsuchen konnte. Ja, dieses Mittel musste es sein. Ich bedankte mich, ging zur Kasse, zum Ausgang und zum draußen wartenden Fahrrad, das ich sofort mit der Tinktur behandelte. Der Wind verteilte das Spray gleichmäßig über Kette, Rahmen und Felgen. In der Tat: Die Kette quietscht jetzt nicht mehr. Dafür die Bremse.

Nicht machen!

Versuchen, festsitzende Kappen alter Edding-Filzer mit den Zähnen öffnen. Da hat man gleich den Schnabel voll Kunststoffsplitter.

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